Die letzten zwei Kriegsjahre des dritten Reiches in Oehrenstock

Man schreibt das Jahr 1944. Die Frauen und Mütter, deren Männer und Söhne im Krieg sind, zeigen sich besorgt. Viele gesunde Männer des Ortes hat der Krieg schon das Leben gekostet. Die wehrtauglichen Jugendlichen im Alter von 17 und 18 Jahren wurden in diesem Jahr noch zum Kriegsdienst eingezogen, aber auch noch ältere Männer über 35, wie ein Arno Machold, Gerhard Ludwig und Fritz Böhm, die auch nicht wieder zurückkehrten.

In der zweiten Jahreshälfte 1944 standen die amerikanischen Truppen am Rhein. Durch Bombardierung und Beschuss auf das Rheinland wurden viele Menschen nach Mitteldeutschland umgesiedelt. Auch in Oehrenstock wurden Familien aus dem Rheinland aufgenommen.
Anfang des Jahres 1945 war der Kreis Arnstadt schon verloren, aber die Propagandamaschinerie des dritten Reiches redete noch vom Sieg. Im Januar des Jahres wurden die Jugendausbildungslager für den Krieg in den Landkreisen geschaffen. Der Jahrgang 1929 (15 und 16jährige) wurden in der Kreisstadt Arnstadt im Schießen und in Geländeübungen ausgebildet. Ende März 1945 wurde der Jahrgang 1929 (250 Jugendliche des Kreises, darunter 5 Oehrenstöcker) einberufen. Am dritten Tag, zum Appell, wurde mitgeteilt, dass diese 250 Jungen zur sogenannten Sofortaktion in das Wehrertüchtigungslager Walterhausen abtransportiert werden sollen. Diese Sofortaktion hatte den Sinn, schnelle Wehrtauglichkeitsmusterungen vorzunehmen.

In Walterhausen angekommen, begrüßte ein Vorgesetzter die Jugendlichen als "Kriegsfreiwillige" der Waffen-SS, obwohl nur wenige von ihnen sich freiwillig gemeldet hatten. Sie wurden in einer Turnhalle untergebracht, denn das Lager war überfüllt. Gegen 20 Uhr begann die Musterung und zugleich auch die "Freiwillige Unterzeichnung zur Waffen-SS", auch gegen den Willen der Mehrheit der Jugendlichen.

Am 31. März 1945 wurden wegen Überfüllung des Lagers die Jugendlichen des Kreises entlassen mit der Bereitstellung, am 14. April 1945 wieder einzutreffen. Dazu kam es nicht, denn die amerikanischen Truppen standen am 7. April 1945 auf dem Rennsteig.

In der Nacht vom 8. zum 9. April 1945 gab es die ersten Einschüsse in Ilmenau. Am Vormittag des 9. April fuhr ein amerikanischer Panzer auf der Ilmenauer Sturmheide ein. Dieser wurde von einem Sturmgeschütz der Deutschen Wehrmacht, welches auf der Oberpörlitzer Höhe stand, abgeschossen. Daraufhin stand diese Position unter starkem Beschuss der amerikanischen Truppen. In den Nachmittagsstunden wurde Oehrenstock beschossen. Gegen 14 Uhr gab es einen Volltreffer in einer Scheune in der Schulstraße. Der damalige Besitzer war Dr. Hans Hörold, der aber nicht mehr in Oehrenstock wohnte.

Am Vormittag des 10. April 1945 begann der Beschuss auf Oehrenstock erneut. Gegen 10 Uhr schlug ein Geschoss in der Dorfmitte in das Café Seeber ein, wodurch die Oehrenstöcker in Angst und Schrecken versetzt wurden. Zwei 16jährige Jungen in der Ilmenauer Straße namens Manfred Seeber und Gerhard Schumm diskutierten über den Beschuss und beschlossen, Initiative zu ergreifen. Sie wollten zum Bürgermeister gehen und die weiße Fahne auf dem Kirchturm hissen. Otto Seeber hatte den beiden Jugendlichen sogar sein Einverständnis gegeben. Daraufhin eilten die zwei zum Dorfpfarrer Sommerlatte und baten ihn um den Schlüssel zur Kirche. Nach dessen Erhalt wurde im Nachbarhaus der Kirche - bei Günter Hörold und Kurt Seeber (Hannekel-Schuster) - eine ca. 3 m lange Stange mit einem großen weißen Tuch hergerichtet. Dann eilten sie zum Kirchturm. Der Aufstieg zu den Luken war aber nicht ohne Gefahr, denn der Turm wankte von den Einschüssen auf die Felder rings um Oehrenstock. Kaum war die weiße Fahne durch die Kirchturmsluke gesteckt, hörte der Beschuss auf. Die zwei Jungen verließen den Kirchturm und sahen auf dem Weg zurück zu ihren Elternhäusern, dass viele Leute ebenfalls weiße Fahnen an ihren Häusern angebracht hatten. Nach ca. 1 Stunde fuhr ein Panzerspähwagen der SS beim Bürgermeister vor. Der Kommandant befahl, die weißen Fahnen unverzüglich vom Kirchturm und den Häusern zu entfernen. Andernfalls ließe er das Dorf zusammenschießen. Der Bürgermeister musste anordnen, dass Manfred Seeber und Gerhard Schumm die weiße Fahne vom Kirchturm einziehen sollten. Letzterer aber weigerte sich aus dem Grund, dass der Beschuss der Amerikaner wieder einsetzen würde. Daraufhin ging Manfred Seeber mit Rudi Schrickel erneut auf den Turm und zog mit ihm die Fahne ein. Gegen 16 Uhr marschierten amerikanische Truppen vom Wildberg und Heidelberg her in Richtung Oehrenstock ein. Haus für Haus wurde durchsucht und einige Häuser belagert.

Am 11. April 1945 um 9 Uhr vormittags wurde den Bürgern der Ilmenauer Straße über die Ortsschelle vom Bürgermeister bekannt gegeben, dass die Ilmenauer Straße bis Café Seeber von den Einwohnern geräumt werden müsse. Ilmenau hatte sich noch nicht ergeben, die Amerikaner rechneten noch mit Beschuss. Nun begann ein Ausziehen voller Angst. Jeder Bürger der Ilmenauer Straße nahm das Nötigste per Handwagen und Schubkarren und zog in das Oberdorf.

Am nächsten Tag, dem 12. April 1945, hatte sich Ilmenau ergeben und die Bürger der Ilmenauer Straße konnten in den nachfolgenden Tagen wieder in ihre Wohnungen und Häuser zurück.

Ein sinnloser Krieg mit vielen Opfern ging zu Ende. Die Folgen waren noch lange zu spüren. Oehrenstock hatte den Tod von 42 gesunden Ehemännern und Söhnen zu beklagen. Das Leid war groß. Es gab enorme Unterbrechungen der Strom- und Gasbereitstellung. Auch die Versorgung der Leute mit Lebensmitteln war sehr karg. Nur ganz, ganz langsam kehrte wieder so etwas wie ein normales Leben ein.
Über jeden Mann und Sohn, der von den Fronten und aus der Kriegsgefangenschaft zurück kam, war die Freude riesig. Die Not, die der Krieg hinterließ, war zwar immer noch sehr groß, aber trotz allem versammelten sich im Herbst 1945 die Jugendlichen des Dorfes und feierten die erste Nachkriegskirmes.

Erlebt und niedergeschrieben von Gerhard Schumm, Oehrenstock 2006

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